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Letzter Halt: Das St.-Ursula-Heim Offenburg

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Titelseite

Eine Multimedia-Reportage von Marc Mudrak (Text/Konzeption) und Lukas Habura (Fotos/Videos)
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St.-Ursula-Heim

Bärtige, zerfruchte Gesichter blicken aus den Ecken in der Eingangshalle des St.-Ursula-Heims. Manche der Männer stehen still, andere treten von einem Bein aufs andere. Im Halbdunkel des frühen Morgens wirken sie wie graue Denkmäler der Dramen ihres Lebens. Junge und Frauen, deren Zahl im St.-Ursula-Heim steigt, scheinen sich zurückgezogen zu haben. Bei ihnen ist die Scham größer.

Im Foyer und in den Fluren riecht es nach Putzmittel. Aus dem Keller dringt der Duft frischer Wäsche. Welch ein Kontrast zum elenden Leben auf der Straße, das die Bewohner hinter sich haben. Pritschen stehen auf den Gängen für diejenigen, die nachts um Aufnahme gebeten haben.

Im Speiseraum sitzen die Bewohner um die Holztische, manche in Gruppen, einige allein. Viele kauen mit gesenktem Kopf, blicken auf den Teller, bleiben stumm.

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Das St.-Ursula-Heim in der Vogesenstraße ist Offenburgs wichtigste Anlaufstelle für Wohnungslose. 44 Plätze stehen dort regulär zur Verfügung, aber wer nachts spontan um Aufnahme bittet, wird nicht abgewiesen.

In der Wärmestube können erschöpfte und durchgefrorene Wohnungslose für einige Stunden Ruhe finden, etwas zu Essen und Kontakt mit anderen Menschen. In der Pflasterstube gibt es erste medizinische Versorgung. Die Bewohner sind zwischen 18 und 78 Jahre alt. Geleitet wird die Einrichtung von Eva Christoph.

Ziel ist es, die Bewohner bei ihrem Kampf um ein besseres Leben zu unterstützen. In der Einrichtung herrschen deshalb strenge Regeln. Waffen und harte Drogen sind verboten. Die Essenszeiten sind genau festgelegt. Frühstück gibt es um sieben, Mittagessen um eins und Abendessen um sechs.

In dieser Welt müssen sich die ehemaligen Obdachlosen zurechtfinden. Manche scheitern. Einige gewinnen. Alle kämpfen.



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Porträts

Als Robert im Frühjahr 2013 im St.-Ursula-Heim ankam, war er am Ende. Eine Existenz, zerrieben zwischen Alkohol, Enttäuschungen und Unsicherheit. Tag für Tag quälten ihn die mal abschätzigen, mal mitleidigen Blicke der anderen. Die Blicke derer, die ein Dach überm Kopf haben, Arbeit und schöne Klamotten. Und die geliebt werden. All das kannte er lange nicht. Manches vielleicht noch nie.

Geboren wurde er in Ingolstadt. „Meine Mutter hat gesoffen und mich verprügelt. Sie war völlig unberechenbar“, erzählt er.
Dennoch schien sich sein Leben einzurenken. Er machte eine Metzgerlehre, arbeitete im Straßenbau.
Der Absturz kam im Jahr 2009. Das Unternehmen, für das Robert arbeitete, ging in Konkurs. Der damals 52-Jährige verlor fast über Nacht seinen Job, die Firmenwohnung, das Fahrzeug. Er war Alkoholiker - und stand allein auf der Straße.

Robert entschloss sich zur Flucht: Ein Jahr tourte er durch Frankreich, entlang der Loire, als Obdachloser.
Zurück in Deutschland versuchte er, in der Ortenau Fuß zu fassen. »Doch ohne Wohnung bekam ich keinen festen Arbeitsvertrag und ohne Arbeitsvertrag keine Wohnung.« Robert blieb obdachlos - und wurde krank.

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Zu dieser Zeit besuchte er immer wieder die Wärmestube des St.-Ursula-Heims. Robert fiel den Sozialarbeitern auf. „Die haben mir geraten, dass ich dauerhaft ins St.-Ursula-Heim gehen soll“, erzählt der 58-Jährige. Und ins Krankenhaus. Robert musste dringend operiert werden.

Die Operation war erfolgreich. Jetzt ging es darum, dass Robert auch sein Leben in den Griff bekommt. Er kämpft sich zurück ins Leben. Im St.-Ursula-Heim gibt es Arbeitsmöglichkeiten für die Bewohner. »Noch auf Krücken habe ich angefangen, als Pförtner zu arbeiten«, erzählt er. Vor allem nachts sind die Dienste des bulligen Manns gefragt.

Bis zum Januar 2015 wohnt Robert im St.-Ursula-Heim. Dann zog er mit anderen Männern in eine Wohnung in Offenburg, die das Heim angemietet hat. Sein Kampf geht weiter: Er hat kein eigenes Konto, kein Telefon, bezieht Hartz IV. Mit seinem Zottelbart bleibt er ein Fremdkörper in der Hochglanzwelt des 21. Jahrhunderts.

Die Hoffnung auf einen festen Job gibt er trotzdem nicht auf. Hat Robert Träume? »Ich möchte eine Reise nach Rom unternehmen. Mit meinem eigenen Auto.« Das St.-Ursula-Heim war dabei nur ein Zwischenhalt. Aber der Wichtigste in Roberts Leben.
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Bei vielen ehemaligen Obdachlosen hat sich das Schicksal mit tiefen Furchen ins Gesicht eingeschrieben. Sie sind markant. Petra scheint innerlich leer. Die Augen blicken träge. Das Gesicht ist rund. Sie spricht langsam und verwaschen. Sie sitzt. Raucht. Wartet. Aber worauf?

Petra ist 50 Jahre alt. Seit fünf Jahren lebt sie im St.-Ursula-Heim, erzählt sie. "Ich komme ursprünglich aus Thüringen und bin nach der Wende in den Westen, eine Zeit lang nach Frankfurt." Mit 14 habe sie angefangen zu trinken. Mit der Zeit sei es immer mehr geworden. Ein Leben im Vollrausch. Jahrzehntelang.

Petra litt auf der Straße. Und liebte auf der Straße. "Ich habe einen Mann kennengelernt. Er war seit seinem 14. Lebensjahr obdachlos." Zusammen lebten sie auf der Straße. Er sei mit 51 gestorben.
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Irgendwann landete Petra in der Ortenau. Sie war krank, ohne es zu wissen, zu spüren. Der Alkohol half ihr, über die Gebrechen hinwegzusehen. Die Droge ist ein wichtiger Freund für viele Wohnungslose. Aber ein falscher Freund.

"Als ich das Tagesgeld im St.-Ursula-Heim abholte, hatte ich meinen ersten Infarkt", erzählt Petra. Sie trank weiter, dachte eher an einen Schwächeanfall. Dann kam der zweite Infarkt. Wann all das geschehen ist, kann sie nicht genau sagen. Die Jahre scheinen für sie zu verschwimmen. "Die Infarkte waren die Wendepunkte in meinem Leben", sagt sie.

Jetzt sitzt sie in ihrem kleinen Zimmer im St.-Ursula-Heim. Seit drei Jahren sei sie trocken. Höchstens zum Geburtstag gibt es mal einen Sekt. Die Folgen ihres Lebens machen sich bemerkbar: Petra leidet an Typ-2-Diabetes.

"Es geht mir gut hier", sagt sie. "Ich habe alles, was ich brauche. Außer einem Mann." Im St.-Ursula-Heim gibt es ein Dach überm Kopf, Essen, frische Wäsche. Aber Liebe?
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Hinter den Brillengläsern lugen riesige, wache Augen hervor. Sie blicken auf ein stählernes Regal. Darin stapeln sich bunte Medikamentenpackungen, Tupfer und Verbandszeug. Günter Melle greift hinein mit seinen faltigen, ein wenig steifen Händen. Er schnappt sich zwei Päckchen, mustert sie mit seinen riesigen, wachen Augen, nickt zufrieden.

Der 69-Jährige leitet die Pflasterstube des St.-Ursula-Heims. In ihr erhalten Menschen medizinische Hilfe, die von Ärzten und Krankenhäusern abgewiesen werden, weil sie sich keine Pflege leisten können. "Zu mir kommen die Bewohner des Heims, aber auch osteuropäische Saisonarbeiter oder Hartz-IV-Empfänger", erzählt er.  Getragen wird die Pflasterstube von einem Förderverein.
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Melle ist gelernter Pfleger - und war selbst eine Zeit lang wohnungslos. Das war im Jahr 2010. Damals lebte er im St.-Ursula-Heim. Jetzt pflegt er die, die krank am Rande der Gesellschaft der Ortenau leben - vom Hilfsbedürftigen zum Helfer. "Etwa 50 Menschen werden in der Pflasterstube behandelt", sagt er. "Die Hälfte kommt von außerhalb."

"Die Menschen hier zu pfegen ist eine schöne Aufgabe", sagt Melle. "Wir helfen bei allen möglichen Krankheiten, bis hin zum Krebs." Der 69-Jährige geht regelmäßig auf Visite durch das Heim, erkundigt sich nach dem Befinden der kranken Bewohner, plaudert mit ihnen. Dabei helfe ihm, dass er die Psychologie der Wohnungslosen kennt.  "Gespräche sind manchmal die beste Medizin."
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Interview mit der Heimleiterin

Seit Mai 2012 leitet Eva Christoph das St.-Ursula-Heim. Gelernt hat sie Schreinerin, studiert hat sie Betriebswirtschaftslehre. Sieben Jahre war sie bei der Arbeitsagentur angestellt.

Es ist sechs Uhr morgens. Seit vier ist Christoph auf den Beinen, doch von Müdigkeit ist bei ihr nichts zu sehen. Dabei trägt sie die Verantwortung für die neun Sozialarbeiter, die Beschäftigten in der Küche, der Verwaltung und der Pflasterstube. Und für die Bewohner des Heims.

Sehen sie im Video-Interview, wie Eva Christoph mit diesem Druck umgeht, was sie über den Alltag und die Menschen im St.-Ursula-Heim berichtet - und was sie sich von Politik und Gesellschaft wünscht.
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Manche Bewohner des St.-Ursula-Heims schaffen den Neustart. Für sie wird die Offenburger Einrichtung zum letzten Halt vor einem besseren Leben. Der 58-jährige Robert hat es geschafft. Oder Günter Melle, der nun die Wohnungslosen pflegt.

Andere Bewohner scheitern. Das St.-Ursula-Heim ist dann der endgültige Halt in einem hoffnungslos aus den Fugen geratenen Leben. So wohl für die 50-jährige Petra.

In der Offenburger Einrichtung kreuzen sich Lebenswege, wenden sich Schicksale. Manche Bewohner gewinnen. Andere verlieren. Aber alle kämpfen - auf ihre Weise.
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